Der weiße Kittel - Möge die Macht mit dir sein

Was für Clark Kent der rote Umhang und Hannah Montana die Perücke ist, ist für Ärzt*innen der weiße Kittel. Mit ihm verwandeln sie sich in ein mächtigeres Alter Ego mit besonderen Fähigkeiten. Wer nun denkt: „Halt mal, Ärzt*innen verfügen immer über ihre medizinischen Fähigkeiten, da spielt der Kittel ja wohl keine Rolle!“, der/die irrt. Der weiße Kittel bringt eine ganz eigene Macht mit sich.

Wer nun Zweifel an der Eigenmacht des Kittels hat, dem erzähle ich einen kleinen Schwenk aus meinem Leben: Als Mitarbeiterin in der Forschung war ich in Kliniken angestellt und hatte dort auch mein Büro. Ich schlappte also immer dorthin, vorbei am Empfangspersonal, an den immer selben Stationen. Nach einiger Zeit erkannte ich vom Sehen her auch Ärzt*innen, Reinigungs- und Sicherheitspersonal und grüßte immer, wobei ich oft keine Antwort oder überhaupt eine Reaktion bekam. Ich nahm das als gegeben hin.

Die Macht des Kittels

Dann kam der Tag, an dem ich hospitieren durfte. Das bedeutet, ich konnte mir anschauen, wie der Klinikalltag von Ärzt*innen abläuft und dafür bekam ich einen – Trommelwirbel - weißen Kittel. Und auf dem Kittel prangte mein Namensschild mit Doktortitel und allem. Ich sah also einer Ärztin zum Verwechseln ähnlich und fühlte mich bei dieser Scharade tatsächlich etwas unwohl. Denn niemand konnte ja ahnen, dass mein Doktortitel ihnen nur helfen konnte, wenn ihr Notfall darin bestand eine wissenschaftliche Abhandlung über irgendetwas schreiben zu wollen und dass ich bei einem medizinischen Problem mehr als unnütz sein würde.

Trotzdem zog ich schon im Büro meinen weißen Kittel über und machte mich auf den Weg zur Station. Im Treppenhaus begannen die ersten Leute von mir Notiz zu nehmen: Ärzt*innen nickten mir zu, das Reinigungspersonal blickte von seiner Tätigkeit auf, hielt kurz inne und grüßte mich freundlich. Erst antwortete ich gar nicht, so gewohnt war ich an meine Unsichtbarkeit. Dann fing ich an mich zu wundern, was heute mit allen los war, bis mir endlich klar wurde, was anders war: Der Kittel. Diese eigenartige neue Sichtbarkeit setzte sich auf der Station fort: Patient*innen begrüßten mich mit Frau Doktor und räumten den Weg, damit ich vorbeikam. Ich war fast versucht einen Stift fallen zu lassen und zu sehen, wie viele Leute losstürzen und ihn mir aufheben würden.

Die Kehrseite des Kittels

In Gesprächen mit onkologischen Patient*innen, denen ich beiwohnen durfte (und wo eigentlich klargestellt wurde, in welcher Rolle ich da war), lernte ich die Kehrseite meiner neugefundenen Sichtbarkeit kennen. Sie richteten immer wieder ihre hoffnungsvollen Blicke voller Erwartung auf mich, als ob ich den Schlüssel hätte zu etwas, von dem sie in irgendeiner Weise abhängig wären. 

Oder sie forderten mich per Blickkontakt dazu auf ihre Entscheidungen abzunicken, als ob ich wüsste, was das Beste für sie sei. Im Laufe des Tages, fühlte ich mich immer unwohler und wollte allen entgegenschreien: „Ich bin gar keine richtige Ärztin!“. Denn so schön es auch war, endlich die Macht der Sichtbarkeit zu haben, fühlte sich der Kittel gleichzeitig wie eine Bürde an. Und wie ein Einzelkind, dem die gesamten Hoffnungen der Eltern auf den Schultern lasten, kamen auch mit dem Kittel Erwartungen, die schwer auf mir wogen. Denn wie man spätestens seit Spiderman weiß: „Mit großer Macht, kommt große Verantwortung“.

Wie eng diese Verantwortung mit dem weißen Kittel verbunden ist, zeigen die sogenannten „White coat ceremonies“. Dabei wird Medizinstudierenden in einem Initiationsritual ein weißer Kittel überreicht. Dies dient zum einen der Aufnahme in die Zunft der Mediziner*innen, man ist ab jetzt Kolleg*in, aber eben auch dazu, Studierenden bewusst zu machen, dass sie ab nun in die Rolle der Ärzt*in schlüpfen und eine Verantwortung für das Wohl ihrer Patient*innen tragen. Damit einher gehen Privilegien, man darf Dinge tun, die andere nicht dürfen, zum Beispiel die körperliche Integrität anderer verletzen, um sie zu heilen oder Medikamente verschreiben. Der weiße Kittel steht symbolisch dafür, er trennt einen von den Kranken und markiert einen als Zugehörige*n der ärztlichen Gemeinschaft. Nicht zuletzt führt diese Gruppenzugehörigkeit aber auch zu einer Abgrenzung. Das unvermeidliche Machtgefälle zwischen Ärzt*innen und Patient*innen wird dadurch noch einmal allen klar vor Augen geführt.

Der Kittel als Schutzschild

Gerne werfen wir Ärzt*innen Überheblichkeit, einen Hang zur Allwissenheit und sogar einen Gottkomplex vor und das sicher oft zu Recht. Dennoch konnte ich mich in meinem weißen Kittel des Gefühls nicht erwehren, dass das nötige Schutzschilder sein könnten, um mit den Erwartungen und Hilferufen umgehen zu können, die ständig auf einen einprasseln: „Was habe ich? Was können Sie dagegen tun? Sagen Sie mir, dass Sie mir helfen können! Werde ich überleben?“. Und sicher gehört es zur Aufgabe von Ärzt*innen Patient*innen zu helfen. Das geht mit dem Job einher und die meisten Ärzt*innen sehen dies als ihre Berufung und die Erfolge als ihren Lohn. Jedoch merkte ich mit jedem neuen Gespräch, dass das schwer wiegen kann und an manchen Tagen noch schwerer, gerade in der Onkologie.

Ärzt*innen haben oft nur ihre eigenen Ressourcen, um damit umzugehen und erfahren ansonsten wenig Unterstützung. Nicht umsonst ist die Burn-out-Rate unter Ärzt*innen seit Jahren ein Thema und vor allem nach der Pandemie noch präsenter. Hierfür gibt es eine ganze Reihe an Gründen, viele davon hängen mit den Rahmenbedingungen und der Gesundheitspolitik zusammen, so die zunehmende Bürokratisierung des Berufs und dem Zwang der Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssystems. Es gibt aber auch innerlich veranlagte Gründe: Der Umgang mit (emotionalem) Stress, die Selbstfürsorge und auch die emotionale Kompetenz im Umgang mit Patient*innen und einem selbst. 

Das wird im Studium in der Flut von Fachkompetenz meist gar nicht gelehrt und auch danach gibt es für Ärzt*innen (und auch andere medizinische Berufe) kaum Möglichkeiten der Unterstützung bei der Bewältigung ihres anspruchsvollen Alltags. Die Folgen davon sind auch für uns Patient*innen spürbar: Mangelnde Empathie, Zynismus und Entmenschlichung und fehlende Motivation auf Seiten der betroffenen Ärzt*innen.

Der Mensch hinterm Kittel

Der weiße Kittel garantiert also keine Immunität, er schützt nicht automatisch vor dem Stress und den negativen Folgen, die die Verantwortung mit sich bringt. Und manchmal sollten wir als Patient*innen auch über den weißen Kittel hinwegsehen, über die Rolle als Ärzt*in, die er signalisiert und den Menschen dahinter wahrnehmen, so wie wir es uns umgekehrt wünschen. Denn es ist nicht immer selbstverständlich, dass die meisten von ihnen ihren weißen Kittel trotz allem tagtäglich wieder anziehen.

Ich konnte dankenswerterweise meinen weißen Kittel am Ende des Tages wieder ablegen. Auf meinem Weg nach draußen, wünschte ich allen, denen ich begegnete einen guten Abend und war froh, als niemand mir antwortete.

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Zuletzt geändert am: 13.03.2024
Autor: Redaktion StärkergegenKrebs

Dr.sc.med. Violet Handtke

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Bergner, T. (2004) Burn-out bei Ärzten: Lebensaufgabe statt Lebens-Aufgabe. In: Ärzteblatt. PP3, S.S. 410. https://www.aerzteblatt.de/archiv/43363/Burn-out-bei-Aerzten-Lebensaufgabe-statt-Lebens-Aufgabe; Letzter Abruf: 12.03.2024

Lyckholm, L. (2001) Dealing with stress, burnout, and grief in the practice of oncology. In: The Lancet Oncology. 2(12), S.750-755.

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