Medizinische Leitlinien - Qualitätsgesicherte Informationen

Medizinische Leitlinien sind Orientierungshilfen für Ärzt*innen und andere medizinische Berufsgruppen und funktionieren ähnlich wie ein Navi. Es steckt aber weit mehr hinter Leitlinien, als es zunächst den Anschein macht, unter anderem eine ganze Menge Arbeit. Die ist aber auch notwendig, damit die Qualität gewährleistet werden kann.

In diesem Beitrag erfahrt ihr, wer medizinische Leitlinien erstellt, wer sie kontrolliert, was es für Leitlinien gibt und wie Patient*innen und Angehörige sie nutzen können.

Wer erstellt medizinische Leitlinien?

Medizinische Leitlinien werden meist von Fachgesellschaften herausgegeben, die besonders viel Erfahrung in dem jeweiligen Gesundheitsbereich mitbringen. Es werden teilweise aber auch Patient*innenvertretungen eingebunden.

Sinnvoll ist es, wenn sie regelmäßig aktualisiert werden, weil immer wieder neues Wissen hinzukommt und dadurch Änderungen entstehen können, die möglichst schnell in der medizinischen Praxis umgesetzt werden sollten.

Werden medizinische Leitlinien kontrolliert?

Für alle Verschwörungstheoretiker*innen, habe ich gute Nachrichten, denn es gibt tatsächlich mehrere Instanzen, die Leitlinien nochmal kontrollieren:

Erstmal muss in Leitlinien genau beschrieben werden, wie vorgegangen worden ist, um sie zu erstellen. Dieser Teil wird „Methodik“ genannt. Eine kleine Warnung an dieser Stelle: Die Methodik komplett durchzulesen kann selbst für hartgesottene Wissenschaftler*innen manchmal zu narkoleptischen Episoden führen. Ich empfehle demnach einen starken Kaffee als Begleitung. Das erlaubt aber Transparenz, denn man kann nachvollziehen, wie die Leitlinie zustande gekommen ist und so selbst kontrollieren, ob das für einen Sinn ergibt.

Auch müssen alle an der Erstellung von Leitlinien beteiligten Personen mögliche Interessenskonflikte offenlegen. Was heißt das konkret? Wird (oder wurde) der Experte Prof. Dr. med. Soundso von der Pharmaindustrie bezahlt (auch im Rahmen von Studien oder Vorträgen), muss er das angeben. Ansonsten könnte man auf die Idee kommen, dass er ein bestimmtes Medikament zur Behandlung nur deshalb empfiehlt, weil er damit die Leckerli-Sucht seines Schnauzers Oskar finanzieren kann. Das ist also eine sehr berechtigte Kritik, weshalb mittlerweile sogar dazu übergegangen wird, dass die betroffenen Expert*innen die Produkte bei solchen Interessenskonflikten nicht mehr bewerten dürfen. Leitlinienwatch bewertet Leitlinien nach solchen Interessenskonflikten mit der Pharmaindustrie.

Dann gibt es noch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Abgesehen davon, dass hier mal wieder die Chance für einen weitaus cooleres Akronym verpasst wurde, ist das eine sehr nützliche Einrichtung. Das IQWiG ist unabhängig und bewertet Leitlinien. Vor allem machen sie auch eine Kosten-Nutzen-Analyse von Behandlungen. Das heißt sie gehen Fragen auf den Grund wie: Ist Medikament X zu teuer für das, was es kann? Wer mehr wissen will, geht auf die laienfreundliche Seite des IQWiG, ohne lästigen Fachjargon.

Last but not least: Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.), nimmt nur Leitlinien in ihr Register auf, die ihre Qualitätskriterien erfüllen.

Es gibt also zum Glück einige Kontrollmechanismen, die Leitlinien unter die Lupe nehmen. Leider entsteht eines der größten Mankos von Leitlinien gerade aus ihren hohen Qualitätsansprüchen heraus: Bis eine S3-Leitlinie fertig und veröffentlicht ist, vergehen einige Jahre. In dieser Zeit werden ständig neue Studien veröffentlicht, die unter Umständen einen Einfluss auf die Empfehlungen in den Leitlinien hätten. Deshalb müssen sie auch regelmäßig aktualisiert werden.

Was bedeutet S1, S2 und S3 Leitlinie?

Was erst einmal wie Autoklassen klingt, sind eigentlich unterschiedliche Stufen der Aussagekraft von Leitlinien. Je höher die Zahl, desto besser ist das Wissen qualitätsgesichert.

Was heißt das jetzt konkret? Hier ein Versuch der Entwirrung. Es gibt zwei wichtige Informationsquellen bei Leitlinien: 

Die Literatur: Das sind alle Veröffentlichungen, meist wissenschaftliche Studien, zu dem Thema. Diese Fachartikel sind meist in Fachzeitschriften oder Datenbanken zu finden, zum Beispiel in Pubmed, Cochrane, Embase, Medline, CINAHL.

Die Suche nach geeigneter Literatur zu dem Thema kann:

unstrukturiert erfolgen, das heißt es wird einfach gesucht und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengetragen

- strukturiert als systematische Literaturrecherche. Dabei werden für die Suche und die Auswahl der Artikel genaue Kriterien festgelegt. Zum Beispiel können bei der Suche genaue Suchwörter oder Wortkombinationen, der Zeitraum der Veröffentlichung oder die Sprache bestimmt werden. Bei der Auswahl der Artikel kommen wieder andere Dinge zum Tragen, zum Beispiel die Art der einzuschließenden Studien.

Die Qualität einer systematischen Recherche ist weitaus höher, weil sie umfassender ist und wichtige Überlegungen zur Qualität der einzuschließenden Studien stattgefunden haben.

Expert*innenwissen: Expert*innen kennen sich in einem bestimmten medizinischen Fachgebiet besonders gut aus und werden bei Leitlinien gebeten Empfehlungen zu geben. 

Hier gibt es wieder zwei Qualitätskriterien:

Die Zusammenstellung der Expert*innengruppe: Besteht diese aus ein paar rekrutierten Expert*innen, die dann ihre Einschätzung abgeben? Oder wird genau überlegt, wer Teil der Gruppe wird und wieso? Man spricht dann von einer repräsentativen Gruppe, wenn darauf geachtet wird, dass Expert*innen bestimmter Gruppen oder Fachrichtungen vertreten sind.

Die Konsensfindung: Wie einigt sich die Gruppe? Expert*innen sind nicht immer einer Meinung, ähnlich wie der Rest der Welt. Daher sollten Regeln zur Einigung festgelegt werden, welche Empfehlungen in die Leitlinie kommen. Gibt es Regeln, spricht man von einer strukturierten Konsensfindung. Die ist natürlich transparenter und fairer.

S3-Leitlinien sind zwar die unangefochtenen Sieger, was die Qualität angeht, dadurch aber auch am aufwändigsten in ihrer Erstellung. Es kann gut und gerne mal einige Jahre dauern, bis sie so weit sind, dass sie veröffentlicht werden können. Das Gute ist, dass auf Basis von S3-Leitlinien auch Patientenleitlinien erstellt werden, hier stimmt also die Qualität.

Wie können Patient*innen und Angehörige medizinische Leitlinien nutzen?

Leitlinien sind vollgepackt mit nützlichen Informationen, die es auch Patient*innen und Angehörigen ermöglichen, mehr über die betreffende Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten zu erfahren. Das hilft für die eigene Entscheidungsfindung, für Gespräche mit Ärzt*innen oder einfach zum besseren Verständnis der Behandlung.

Allerdings ist zu bedenken, dass Leitlinien von Vertreter*innen von Fachgesellschaften für medizinisches Fachpersonal geschrieben sind. Das heißt, es bedarf bereits eines guten bis sehr guten medizinischen Verständnisses und einer besonderen Vorliebe für Fachbegriffe, um sich damit zu beschäftigen. Patientenleitlinien sind hier sicher eine gute Alternative für Menschen, die sich ausführlich informieren wollen, aber eine einfachere Sprache bevorzugen.

Letztlich profitieren Patient*innen und Angehörige aber auf jeden Fall von Leitlinien, ganz ohne sie zu lesen, denn Leitlinien verbessern die medizinische Versorgung, weil sie streng evidenzbasiert sind. Das heißt es wird in ihnen nur empfohlen, was auch nachweislich einen Nutzen hat und was schädlich ist, fliegt raus. Je mehr sie also genutzt werden, umso besser. Hier können Patient*innen und Angehörige auch nachfragen: „Entspricht meine Behandlung oder die meines Angehörigen der medizinischen Leitlinie?“.

Wo kann ich medizinische Leitlinien finden?

Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V.)  hat ein Leitlinien Register und Patientenleitlinien.

Finden Sie spezialisierte Experten bei Krebs
Bitte Fachbereich auswählen
Zuletzt geändert am: 03.04.2024
Autor: Redaktion StärkergegenKrebs

Dr.sc.med. Violet Handtke

Beitrag jetzt teilen

Krebsinformationsdienst (2018) Evidenzbasierte Medizin und Leitlinien. https://www.krebsinformationsdienst.de/tumorarten/grundlagen/ebm-leitlinien.php; Letzter Abruf: 04.03.2024

Leitlinienprogramm, O. (Patienten- und Gesundheitsleitlinien) https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/patientenleitlinien/uebersicht; Letzter Abruf: 04.03.2024

Unser Angebot erfüllt die afgis-Transparenzkriterien. Das afgis-Logo steht für hochwertige Gesundheitsinformationen im Internet.

Fanden Sie diesen Artikel hilfreich?

Vielen Dank für Ihr Feedback!
Gerne können Sie uns noch mehr dazu schreiben.

Bitte füllen Sie das Nachrichtenfeld aus.

Vielen Dank für Ihre weiteren Anmerkungen!

staerkergegenkrebs.de

Ein Service für Krebspatienten und deren Angehörige